Freitag, März 21, 2014

Kleiderwechsel in Estland

Nach neun Jahren Amtszeit (2005-2014) kam der Rücktritt von Ministerpräsident Ansip am 4.März für die meisten überraschend. Allerdings hatte es anhaltende Kritik an der Regierungspolitik gegeben und Analysen, die ein Absinken des Wählerzuspruchs für die Reformpartei Ansip's vorausgesagt hatten. Also musste eine Gegenstrategie her, auch angesichts der Europawahlen im Mai. Doch kann es wirklich so einfach gehen? Mit Siim Kallas Re-Import eines bekannten estnischen Polit-Veteranen und gegenwärtigen EU-Kommissars für Verkehr, dafür Ansip nach Brüssel? Wenn das der Plan war, dann ist er wohl inzwischen nicht ganz aufgegangen.

Befürchtungen, Estland zeige sich ausgerechnet während der unsicheren Situation in der Ukraine "führerlos" versuchte auch Präsident Ilves zu besänftigen: die alte Regierung werde noch solange weiter im Amt bleiben bis der neue Regierungschef gefunden sei. Siim Kallas erklärte sich bereit, für den Parteivorsitz ebenso wie zur Regierungschefsache. 14 Tage hat der Präsident Estlands nach dem Rücktritt eines Regierungschefs Zeit, einen neuen Kandidaten zur Übernahme der Regierung zu finden.

Weiter sehr junge Gesichter in der estnischen
Politik: das hier ist nicht etwa die Rückgabe der
Klassenarbeit an den Lieblingsschüler - es handelt
sich um die Unterzeichnung des Koalitionsvertrags
Der Reformpartei bescheinigen gegenwärtig alle Umfragen sinkende Popularität, aber im Parlament hält sie immer noch die meisten Sitze (33 von 101). Der bisherige Koalitionspartner, die Vereinigung Respublica und Vaterlandspartei (estn. abgekürzt IRL - Isamaa ja Res Publica Liit) musste dann mit ansehen, wie sich Gespräche zwischen der Reformpartei und den Sozialdemokraten entwickelten -und Taavi Rõivas, mit 34 Jahren bisher Sozialminister im Kabinett Ansip, als Kandidat für den Chefposten in die erste Reihe stellten. Kandidat Kallas dagegen fühlte sich durch die Veröffentlichung von diskreditierenden Unterlagen, die aus früheren Zeiten stammen sollen, mit einer "Schmutzkampagne" überzogen. Aber nicht Außenminister Urmas Paet, der als einer der populärsten Figuren der Reformpartei gilt, wurde statt seiner aufs Kandidatenschild gehoben, sondern der zumindest international ziemlich unbekannte Sozialminister Rõivas.Nun grübeln einige politische Analysten über der Frage, ob diese Auswahl der Hast zugeschrieben werden muss, als die "Rochade" zwischen Ansip und Kallas zu scheitern drohte. "Jedenfalls wird Rõivas sich noch als Regierungschef beweisen müssen," ist in Zeitungskommentaren zu lesen.

Wie es bisher aussieht, werden die Sozialdemokraten im Kabinett der neuen Regierung Rõivas die Ressorts Verteidigung, Bildung und Wissenschaft, Landwirtschaft, Wirtschaft, Soziales und Justiz einnehmen können. 11 Monate Amtszeit bleibt der neuen Regierung bis zu den nächsten regulären Parlamentswahlen 2015.

Ansip hatte bei seinem Rücktritt drei Dinge genannt, auf die er besonders stolz sei: stabile Finanzen, erhöhte Sicherheit für Estland, und die Schritte auf dem Weg in eine digital organisierte Gesellschaft. Im Austausch für den Schritt der Reformpartei, auf die Sozialdemokraten zuzugehen scheinen diese nun eine Kandidatur Ansips als Estlands nächster EU-Kommissar mitzutragen.

Über Taavi Rõivas sind Kommentare zu lesen, er sei vielleicht der erste estnische Ministerpräsident, der dieses Amt quasi über Nacht zugeschoben bekam, vielleicht sogar ohne dass er es selbst ahnte. Er ist zwar nicht der jüngste Ministerpräsident den Estland je hatte (Mart Laar war noch jünger, als er dieses Amt übernahm), aber dennoch scheint es zumindest eine Art Generationswechsel zu sein (und natürlich der jüngste Regierungschef in der EU, wie "der Standard" zurecht bemerkt). Es wird interessant werden zu sehen, ob auch die estnischen Wählerinnen und Wähler es positiv sehen.

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