Freitag, März 28, 2014

Rochade in der politischen Spitze?

Die Unzufriedenheit der Wähler mit ihrem seit bald zehn Jahren regierenden Ministerpräsidenten Andrus Ansip von der Reformpartei war spätestens seit den Demonstrationen vor dem Parlament im Herbst 2012 bekannt. Ansip hielt durch. Doch seine Amtsmüdigkeit zeigte sich dann im Vorfeld der anstehenden Europawahlen. Jetzt kündigte er seinen Rücktritt an und schlug gleichzeitig Europakommissar Siim Kallas als seinen Nachfolger vor. Der frühere Ministerpräsident und Gründer der Reformpartei war nun zehn Jahre lang für Estland in der EU-Kommission und kann sich eine Rückkehr in die Heimat vorstellen. Darum schickte er kürzlich einen Brief an seine Parteifreunde mit dem Vorschlag, er sei bereit das Amt des Regierungschefs erneut zu übernehmen, um die estnische Präsidentschaft der EU im Jahre 2018 vorzubereiten. Andrus Ansip wiederum könnte nach Brüssel wechseln. Diese Idee wiederum stammt möglicherweise von Kallas, weil es hinter den Kulissen heißt, Ansip wolle sich nicht selbst vorschlagen. Ansip aber hatte Kallas schon früher als seinen Nachfolger vorgeschlagen, da Estland bis zur EU-Präsidentschaft einen erfahrenen Regierungschef brauche, ohne damals gleich einen Termin für seinen eigenen Rücktritt zu nennen. Hindernisse auf dem Weg zu einer solchen Rochade bestanden dennoch Dank Widerstände in der eigenen Partei und potenten Alternativen wie der an Jahren jüngere Außenminister Urmas Paet. Darüber hinaus befindet sich die Reformpartei derzeit in einer Koalition mit der Konservativen Vaterlandsunion, die gerne selber den Europakommissar stellen würde und bei einer eventuellen neuen Regierungsbildung unter einem anderen Regierungschef das Nachsehen haben könnte, wenn sich die Reformpartei einen anderen Partner sucht, der im Parlament umgekehrt für die Konservativen nicht in Sicht ist. Nachdem diese Idee einer Rochade publik geworden war – Ansip geht nach Brüssel und Kallas kommt im Gegenzug zurück – regten sich Proteste und Kallas verzichtete schließlich auf eine Kandidatur. Gleichzeitig mit der Frage der Spitzenkandidatur ergab sich die Frage der Koalitionsbildung. In einem Parlament mit nur vier Fraktion sind theoretisch mehrere Kombination denkbar, die auch politisch nicht abwegig sind in einem Land, in dem bald jede Partei mit jeder schon einmal gemeinsam regiert hat. Die liberale Reformpartei fand schließlich programmatische Übereinstimmungen mit den oppositionellen Sozialdemokraten, die ihrerseits in den 90er Jahren mit dem bisherigen Koalitionspartner, der Konservativen IRL koaliert hatte. Gegen manche Widerstände wurden Verhandlungen aufgenommen, bevor die Reformpartei schließlich den erst 1979 geborenen Sozialminister Taavi Rõivas als neuen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten vorschlug. Estland bekommt so die erste liberalsoziale Koalition. Am 26. März wurde die neue Regierung vereidigt. Von der Reformpartei behalten ihre Ämter Finanzminister Jürgen Ligi und Außenminister Urmas Paet, während der Vorsitzende der Sozialdemokraten, Sven Mikser, als Verteidigungsminister dieses Amt nicht zum ersten Mal führt. Doch der Regierung bleibt nicht viel Zeit zur Einarbeitung. Bereits im März des kommenden Jahres sind Parlamentswahlen. Diese mit dem fast zehn Jahre amtierenden Andrus Ansip zu gewinnen, galt nicht als sicher – ein wesentlicher Grund für seinen Rücktritt. Mit Blick auf die Koalitionsgeschichte Estlands seit 1992 werden mit großer Wahrscheinlichkeit die Karten dann wieder neu verteilt.

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